Die Bedeutung der regionalen Versorgung mit Lebensmitteln hat in Österreich und Europa durch das Aufkommen aktueller Versorgungskrisen weiter zugenommen. Lebensmittel aus regionaler Produktion werden vor diesem Hintergrund häufig mit für Mensch, Tier und Umwelt fairen, sicheren sowie zukunftsfähigen - also nachhaltigen und resilienten - Produktionsbedingungen in Verbindung gebracht. Ein Umstand, der zunehmend auch für die Vermarktung von Lebensmitteln genutzt wird und sich in diversen Siegeln und Kommunikationsstrategien widerspielt. Da für "regional" produzierte Lebensmittel in Österreich jedoch keine einheitlichen und verbindlichen Standards auf gesetzlicher Ebene festgelegt sind, ist es meist nicht nachvollziehbar, wie nachhaltig, resilient und regional die auf diese Weise vermarkteten Lebensmittel tatsächlich produziert wurden. Es besteht demnach die Gefahr, dass soziale, ethische, ökologische und ökonomische Schwachstellen in der Produktion unter dem Deckmantel der Regionalität verborgen werden.
Davon ausgehend hat das FiBL Österreich den Regionalrechner entwickelt, ein Bewertungstool, das die drei Hauptdimensionen der Nachhaltigkeit (Ökologie, Soziales & Unternehmensführung sowie Ökonomie) gezielt mit dem oft vagen Konzept der Regionalität verbindet. Diese Verknüpfung von Nachhaltigkeit und Regionalität ermöglicht eine umfassende Bewertung der Nachhaltigkeit auf lokaler Ebene, die auf sämtliche Stufen der Wertschöpfungsketten von Lebensmitteln angewandt werden kann. Der Regionalrechner ermöglicht somit eine fundierte, transparente und vergleichbare Bewertung und Kommunikation der Nachhaltigkeitseffekte aller Akteure und Betriebe entlang der Lebensmittel-Wertschöpfungsketten.
Das Bewertungstool baut auf der langjährigen Erfahrung und Praxis der Expert*innen des FiBL in der umfassenden und regionalen Nachhaltigkeitsbewertung auf. Hierfür wurden einerseits bereits etablierte Methoden des FiBL wie "Mehrwert für die Region" und "SMART" weiterentwickelt. Andererseits knüpft die Methode an eine Reihe von in Wissenschaft und Praxis erprobten und breit anerkannten Standards und Konzepten, wie etwa den SAFA-Nachhaltigkeitsleitlinien der FAO, der Gemeinwohlökonomie oder dem GRI-Standard an, wodurch ein solides und anschlussfähiges Fundament geschaffen wurde.
Für die Zusammenstellung relevanter Indikatoren und Themenbereiche sowie die Erstellung einer robusten, zielsicheren und praxisorientierten Methode zur Analyse und Bewertung regionaler Nachhaltigkeitseffekte wurden neben FiBL-internen Expert*innen auch eine Vielzahl externer Expert*innen aus Wissenschaft und Praxis in den Entwicklungsprozess der Bewertungsmethode eingebunden. Neue Erkenntnisse aus der Wissenschaft sowie Entwicklungen in Praxis und gesetzlichen Rahmenbedingungen wurden und werden auch weiterhin regelmäßig reflektiert und gegebenenfalls integriert.
Für die Bewertung der regionalen Nachhaltigkeitseffekte von Lebensmittel-Wertschöpfungsketten wurden 41 Indikatoren bestehend aus insgesamt 108 Sub-Indikatoren als zentral identifiziert. Diese unterteilen sich in folgende Themenbereiche:
Da der Einflussbereich verschiedener Indikatoren im Kontext der regionalen nachhaltigen Entwicklung mitunter variiert und sich auch je nach länderspezifischen Voraussetzungen unterscheiden kann, wurden die Indikatoren für die Bewertung österreichischer Wertschöpfungsketten gewichtet und angeglichen. Das Bewertungsmodell ist demnach bei Anwendung in anderen Ländern auf die jeweiligen Gegebenheiten entsprechend anzupassen.
Der Regionalrechner hat den Anspruch regionale Nachhaltigkeitseffekte entlang ganzer Wertschöpfungsketten abzubilden. Damit soll verhindert werden, dass gewisse Teilbereiche der Produktion, Verarbeitung und Verteilung von Lebensmitteln isoliert betrachtet werden, wodurch ein verfälschtes Bild der tatsächlichen Nachhaltigkeitseffekte eines Lebensmittels wiedergegeben werden könnte. Für die Bewertung werden daher alle relevanten Betriebe einer Lebensmittel-Wertschöpfungskette (landwirtschaftliche Urproduktion, Verarbeitung, Verkauf) in ihrer Gesamtheit (keine Bewertung einzelner Produktionsbereiche) berücksichtigt, was ebenfalls einer Verzerrung der Effekte entgegenwirken soll.
Der primäre Fokus der Bewertung liegt auf den landwirtschaftlichen Betrieben sowie den Unternehmen, die direkt in die Produktion, Verarbeitung und den Vertrieb der Lebensmittel involviert sind (direkter Einflussbereich). Da die vorgelagerten Betriebe und Unternehmen in einer Wertschöpfungskette jedoch oftmals ebenfalls maßgeblich deren ökologische und gesellschaftliche Auswirkungen mitbestimmen (etwa durch Produktion von Futter- und Düngemitteln, Energieproduktion oder die Herstellung von Verpackungsmaterialien), werden diese ebenfalls in der Bewertung berücksichtigt (indirekter Einflussbereich). Im indirekten Einflussbereich werden z.B. zugekaufte Betriebsmittel berücksichtigt und bewertet, die Unternehmen, die diese Betriebsmittel herstellen, jedoch nicht bewertet. Die Systemgrenzen des Regionalrechners enden beim Verkauf der Lebensmittel (Point of Sale), was bedeutet, dass die Phase des Verbrauchs sowie die etwaige Entsorgung oder Wiederverwendung der Lebensmittel nicht in der Bewertung berücksichtigt werden. Diese Schritte der Wertschöpfungskette sind mit großen Unsicherheiten in der Produktlebenszyklusphase verbunden, die in einer umfassenden regionalen Nachhaltigkeitsbewertung nur sehr schwer generalisierbar sind.
Das Indikatoren-Set des Regionalrechners ist so konzipiert worden, dass sämtliche in Österreich denkbaren Lebensmittel-Wertschöpfungsketten vergleichbar und umfassend bewertet werden können. Vor jeder Bewertung wird anhand einer Relevanzanalyse ermittelt, welche Auswahl von Indikatoren für die jeweiligen Betriebe in der Wertschöpfungskette in Abhängigkeit von den Produktions- und Verarbeitungsstrukturen (z.B. Ackerbau, Grünland, geschützter Anbau, Betriebsgröße) wesentlich und relevant ist.
Sind die zu bewertenden Indikatoren festgelegt, werden die Betriebe entlang der Wertschöpfungskette mittels standardisierter Fragebögen erhoben. Die erhobenen Primärdaten der Betriebe werden anschließend in eine Bewertung der Indikatoren übersetzt und pro Indikator auf einer Skala von 0 % bis 100 % dargestellt. Gemeinsam mit Expert*innen aus der landwirtschaftlichen Praxis sowie der Forschung und Beratung im Bereich Nachhaltigkeitsbewertung und Regionalität wurde für die untersuchten Indikatoren definiert, wie die erhobenen Daten in eine Bewertung von 0 % bis 100 % übersetzt werden. Eine Zielerreichung von 0 % spiegelt z.B. Betriebe wider, die im Bereich der untersuchten Indikatoren die gesetzlichen Mindeststandards in Österreich einhalten oder keine Ambitionen zeigen, sich im jeweiligen Themenbereich zu verbessern. Eine Zielerreichung von 100 % klassifiziert hingegen Betriebe, die im jeweiligen Themenbereich bereits Strategien und Maßnahmen umgesetzt haben, die weit über die gesetzlichen Mindeststandards oder gängige Praktiken hinausgehen.
Die jeweiligen Stufen sind dabei wie folgt definiert:
Die Ergebnisse können dabei sowohl auf Indikator- als auch auf Themenbereichsebene für die Akteur*innen entlang der Wertschöpfungskette sowie für die gesamte Wertschöpfungskette aggregiert dargestellt und analysiert werden.
Auf Grund der Fülle an Themen und Indikatoren kann es bei einigen Wertschöpfungsketten, zumindest unter den heutigen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Voraussetzungen, durchaus auch zu sich widersprechenden Zielen, sogenannten Zielkonflikten kommen. Damit ist es den bewerteten Wertschöpfungsketten zwar in der Theorie möglich, in allen Themengebieten 100 % der Ziele zu erreichen, in der Praxis ist dieses Szenario bislang jedoch noch kaum realisierbar. Beispielsweise führt eine besonders ökologische Produktionsweise in der Regel zu einem hohen Zielerreichungsgrad im Bereich der regionalen natürlichen Ressourcen, gleichzeitig kann der damit verbundene Arbeitsaufwand und die Ausgaben für spezifische Betriebsmittel zu geringeren Zielerreichungsgraden (etwa beim Indikator "Wertschöpfung") im Bereich der regionalen Ökonomie führen. Geringe Zielerreichungsgrade bei einzelnen Indikatoren sind demnach nicht unüblich und müssen immer auch vor dem Hintergrund vorhandener Zielkonflikte innerhalb der Wertschöpfungskette betrachtet werden.
Im Gegensatz zu Ergebnissen einer Ökobilanzierung, wo etwa die emittierten Treibhausgasemissionen pro kg Produkt berechnet werden, werden die Ergebnisse des Regionalrechners nicht auf das Produkt heruntergerechnet, sondern spiegeln immer die Ergebnisse der Betriebe und Unternehmen entlang einer Wertschöpfungskette wider, die ein Produkt durchlaufen hat. Am Beispiel einer Wertschöpfungskette von Milchprodukten bedeutet dies, dass die Milchviehbetriebe, die Molkerei und die Verkaufsstellen analysiert und bewertet werden. Die Produkte, die aus dieser Wertschöpfungskette hervorgehen (z.B. Milch, Joghurt und Käse), erhalten, da es sich immer um die gleiche Wertschöpfungskette und die gleichen beteiligten Betriebe und Unternehmen handelt, auch die gleichen Bewertungen des Regionalrechners.